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Dienstag, 24. Mai 2011

04 Sometimes I’m like ‚What the?‘

Jayson’s PoV:

Mitten in der Nacht geweckt zu werden, stand auf meiner Liste mit Dingen, die ich dringend erleben wollte, ungefähr auf derselben Stelle wie das Erleben des nächsten Krieges, eines atomaren Unglücks oder die Hochzeit meiner Mutter mit ihrem Kerl. Also irgendwo ganz weit unten.
Man musste somit nicht rätseln, ob ich es mochte, als ich irgendwann gegen Mitternacht geweckt wurde, weil ein kleiner Junge es kaum erwarten konnte, dass sein Geburtstag war.
„Edward, ich hab zwar gesagt, noch einmal schlafen und dann hast du Geburtstag, aber so war das nicht gemeint.“ Er sah mich leicht verwirrt an. „Hör zu. Dein Geburtstag ist zwar in zehn Minuten, aber er geht einen ganzen Tag lang. Meinst du nicht, du verpasst irgendwas, wenn du die ganze Nacht wach bleibst und dafür dann ein noch längeres Mittagsschläfchen machen musst? Und da passieren doch erst die ganzen tollen Sachen.“
Für einen Moment sah er nachdenklich aus, bevor er heftig nickte.
„Also schlafen wir jetzt damit du später nur ein kurzes Nickerchen machen musst?“ Wieder ein Nicken. Phantastisch.
„Komm, du darfst bei mir schlafen.“
So wurde Edwards zweiter Geburtstag eingeläutet. Wie ich später rausfinden sollte, fand er Ausschlafen an diesem Tag eher überbewertet und weckte mich gegen halb acht.
Ich schickte ihn schon mal runter, damit ich duschen und mich fertig machen konnte. Wir sollten um elf Uhr bei Allys Eltern sein. Die große Feier würde bei ihnen stattfinden. Sarah kannte ein paar Mütter mit Kindern, die in etwa in Edwards Alter waren. Ein paar andere Kinder sollten vorbeikommen, die bei Sarah nachmittags Klavierunterricht nahmen und somit Edward schon etwas kannten.
Ich gähnte herzhaft, bevor ich mich unter die Dusche stellte. Am Abend zuvor hatte ich noch mit Ally telefoniert, um sicher zu gehen, dass wir alles hatten. Dabei fiel mir wieder dieser Typ ein, der uns so seltsam angestarrt hatte, als Edward und ich einkaufen gewesen waren, nachdem ich ihn abgeholt hatte.

Er hatte besonders meinen kleinen Bruder begutachtet. Ich hatte ein ziemlich ungutes Gefühl in der Magengegend. Ich ließ Edward keine Sekunde aus den Augen, während ich gleichzeitig versuchte, an alles zu denken. Für eine Sekunde hatte ich dann doch nicht aufgepasst, weil ich nur am Ende des Gangs schnell etwas holen wollte und als ich mich umdrehte, sah ich den Kerl bei meinem Bruder stehen.
Als ich näher kam, hörte ich, dass er sich mit ihm unterhielt.
„Wie heißt du denn, Kleiner?“
Ich kannte die Stimme irgendwoher, aber hatte keine Erinnerung parat, die mir die Herkunft hätte verraten können.
„Ich bin nicht klein. Ich bin schon zwei!“, verkündete Edward stolz und hielt drei Finger hoch. Das müssten wir noch üben.
„So groß schon?“
Edward nickte heftig. „Ich hab heute Burtstag.“ Er strahlte den Fremden an und wackelte etwas unruhig in dem Wagen rum.
„Heute? Na dann alles Gute zum Geburtstag. Wie heißt du denn, damit ich dir richtig gratulieren kann?“, hakte der Mann nach. Mir gefiel überhaupt nicht, dass er so erpischt darauf war, seinen Namen rauszufinden.
„JayJay.“, antwortete er. Ich hätte beinahe gelacht, wäre ich nicht so angespannt gewesen. Ich beschloss, besser dazwischen zu gehen.
„Verzeihung, kenne ich Sie?“, fragte ich den Typen bedacht ruhig, als ich an den Wagen herantrat. Der Fremde zuckte zusammen.
Edward schaute erst mich und dann ihn an.
Der Mann musterte mich, bevor er zur Antwort ansetzte. „Ich glaube nicht.“
Irgendwoher kannte ich ihn. Nur woher? Ich durchkramte meinen Kopf, während ich den Kerl genauer unter die Lupe nahm. Definitiv bekannt, aber in welcher Verbindung?
„Dann macht es Ihnen sicher nichts aus, uns in Ruhe zu lassen. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, mich über sie zu beschweren.“
Er zuckte erneut zusammen und nickte dann. „Entschuldigung. Ich wollte nicht aufdringlich wirken. Dein Sohn sah nur jemandem ähnlich, den ich kenne.“
Ich verengte meine Augen und fixierte ihn mit meinem Blick. „Er ist mein kleiner Bruder. Und da sich das jetzt geklärt hat, wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.“
Ich schob den Wagen schnell weiter und atmete erst ein paar Gänge weiter wieder erleichtert aus. Edward sah mich etwas verwirrt an. „Jay, warum hast du den Mann so böse angeguckt?“
Mist, so aufmerksam. „Edward, du darfst nicht mit fremden Menschen reden, okay?“
Er legte seinen Kopf leicht schräg. „Okay.“
Seine Aufmerksamkeit war bald auf die Süßigkeiten im Gang beschränkt, während ich versuchte, dass ungute Gefühl loszuwerden.

Ally hatte nicht viel zu dem Thema gesagt. Sie hatte nur nochmal nachgefragt, ob ich inzwischen wüsste, woher ich den Mann kannte.
Während ich jetzt so unter der Dusche stand und mir alles nochmal durch den Kopf gehen ließ, fiel es mir wieder ein. Er war ein Bekannter unserer Mutter gewesen. Das letzte Mal hatte ich ihn vor vier oder fünf Jahren gesehen, als er auf meiner Geburtstagsfeier gewesen war. Ich hatte seine Anwesenheit damals als selbstverständlich eingestuft und nicht irgendwie weiter Beachtung geschenkt.
Das ungute Gefühl wurde definitiv stärker.
Als ich aus der Dusche stieg und mich abtrocknete, hörte ich unten die Klingel. Ugh. Jetzt würde doch nicht der Freund meiner Mutter auftauchen oder?
Ich zog mich schnell an und putzte mir noch die Zähne, bevor ich mich auf den Weg nach unten machte.
Da stand er. Der Kerl vom Vortag. Was wollte er denn hier?
Meine Mutter stand ebenfalls im Flur und fauchte ihn wütend an. Wo war ich denn jetzt hingeraten?
Dieser Gedanke beschäftigte mich genau so lang, bis ich meinen kleinen Bruder verwirrt zwischen den beiden stehen sah.
„Was fällt dir ein, dich hier blicken zu lassen?“, giftete sie. Sie sah verdammt sauer aus.
Aber er sah nicht minder wütend aus. „Was mir einfällt?! Was fällt dir ein, mir davon nichts zu sagen?!“
„Weil es dich nichts angeht. Deswegen. Du hast dich damals entschieden. Ich habe nur deine Entscheidung respektiert, auch wenn du ein mieser, kleiner, beschissener Feigling bist!“
Seine Augen verengten sich und er machte einen Schritt auf sie zu. Edward quiekte kurz erschrocken auf und sprang zurück. Ich lief schnell die Treppe runter. Der Mann hatte indes seinen Blick wieder auf meinen Bruder gerichtet, dieses Mal wesentlich ruhiger und irgendwie besorgt?
Ich nahm Edward schnell auf den Arm und lief in die Küche.
Kaum dass wir den Flur verlassen hatten, ging die Streiterei von vorne los.
„Verlass sofort mein Haus! Ich will dich hier nicht sehen.“, fauchte meine Mutter lautstark.
„Ich habe jedes Recht hier zu sein.“
„Du bist doch sowieso nur wegen diesem dummen Balg hier!“, schrie sie jetzt. „Nimm ihn mit, aber verschwinde sofort aus meinem Haus oder ich rufe die Polizei.“
Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Mir wurde schlecht und ich hoffte inständig, dass meine Vorahnung nicht der Realität entsprach.
Edward weinte währenddessen und fragte mich ständig, was los sei und warum Mami so rumschrie und was der Mann hier mache. Da ich keine konkreten Antworten hatte, versuchte ich nur ihn zu beruhigen und abzulenken.
Das klappte ganz gut, als ich noch ein paar Schokokekse auftrieb.
Ich blendete das Geschrei im Flur aus, auch das Scheppern von  Glas, bis schließlich die ersten Sirenen in der Ferne zu hören waren. Ich hoffte inständig, dass keiner unserer Nachbarn die Polizei gerufen hatte, sondern sie nur an unserem Haus vorbeifuhren, um zu irgendeinem Tatort zu kommen.
Natürlich lachte mein Glück mich aus, als die Sirenen genau vor unserem Haus anhielten. Seit wann kamen die denn so schnell am Ort des Geschehens an? Ich dachte immer, das dauert ewig.
Edward hatte leider auch die Sirenen gehört und beobachtete, wie drei Polizisten aus den Wagen ausstiegen und zu unserer Haustür liefen. „Was macht Polizei hier?“
Ich konnte nur mit den Schultern zucken, aber sein Interesse war schnell wieder auf die Kekse gerichtet.
Es klingelte und Mutter machte die Tür auf.
„Officers, gut dass Sie da sind. Dieser Mann verlässt mein Haus nicht, obwohl ich ihn bereits mehrmals dazu aufgefordert habe.“
„Ma’am, dürfen wir erst einmal reinkommen, um die Situation genauer in Augenschein zu nehmen? Einer ihrer Nachbarn hat angerufen und einen lautstarken Streit gemeldet und lautes Geschepper.“
Sie ließ die drei Polizisten rein. Einer sah kurz zu uns in die Küche.
„Ein Kleinkind und ein Jugendlicher sitzen in der Küche.“, berichtete er den anderen.
„Zu wem gehören die beiden?“, hakte einer der drei nach.
Es war kurz still im Flur, bis sich Mutter schließlich dazu bekannte, dass wir ihre Kinder seien. Ich bildete mir die Scham sicher nicht nur ein, die man ihrer Stimme entnehmen konnte.
„Und weshalb sind Sie hier?“, fragte ein Polizist den Mann.
„Ich habe die starke Vermutung, dass diese Frau hier mir meinen Sohn vorenthalten hat.“, erklärte er ruhig.
Mir wurde schlagartig schlecht. Sohn?
„Und wie kommen Sie auf diese Vermutung?“
„Wir hatten vor ein paar Jahren eine Affäre, die ich beendet habe. Der Junge ist genau im richtigen Alter.“
Mein Blick wanderte langsam zu meinem Bruder, der in aller Ruhe seine Kekse futterte. Das durfte nicht wahr sein.
„Und stimmt seine Vermutung?“, hakte der andere Beamte nach. Der Polizist, der bereits zuvor in die Küche geschaut hatte, kam wieder rein. Er betrachtete uns für einen Moment, bevor er wieder in den Flur ging.
Mutter schnaufte wütend. „Das geht Sie alle nichts an.“ Das war so gut wie eine Bestätigung.
Es war kurz still, bevor einer der Polizisten wieder sprach. „Nun, das Problem kann man schnell aus der Welt schaffen. Machen Sie einen Vaterschaftstest. Und bitte regeln Sie das leiser und ohne irgendwelche Gegenstände durch die Gegend zu werfen. Wir belassen es bei einer Warnung. Einen schönen Tag noch.“
Und weg waren sie. Der Fall war eindeutig zu uninteressant.
Im Flur war es totenstill, bis der Mann das Wort erhob. „Ich rufe gleich meinen Anwalt an. Ich will noch heute den Test machen.“ Er seufzte. „Ich kann nicht glauben, dass du mir das verschwiegen hast.“
Mutter schnaubte. „Was hätte das Balg schon geändert? Du wärst ja doch nicht hier geblieben.“, zickte sie.
Er stieß ein weiteres Seufzen aus. Er schien keine Lust mehr zu haben, sich mit ihr zu streiten. „Kann ich ihn jetzt sehen?“
„Keiner hält dich davon ab. Du kannst ihn wie gesagt auch mitnehmen. Er stört sowieso nur.“
Damit stampfte sie die Treppen hoch und ich hörte, wie ihre Schlafzimmertür zuschlug.
Mir war so übel. Das konnte doch nicht alles gerade eben passiert sein oder? Warum ausgerechnet heute? Hätten sie sich nicht einen anderen Tag aussuchen können, um die Geheimnisse zu lüften?
Ich hörte, wie er sich langsam der Küche näherte. Als er reinkam, richtete er nur kurz seinen Blick auf mich, bevor er auf meinem Bruder ruhte.
Er sah noch immer leicht wütend aus, aber irgendwie auch müde und traurig. Er kam auf uns zu.
„Hallo. Ich schätze mal, ich sollte mich richtig vorstellen, wo wir uns wahrscheinlich öfter sehen werden.“
Ich musterte ihn erneut, schnaubte und wandte meinen Blick ab. Edward hingegen blickte auf und sah den Mann neugierig an, aber er sagte kein Wort.
„Mein Name ist Edward Foster.“ Er streckte seine Hand aus. Ich schüttelte sie nur widerwillig. Mutter hatte meinen Bruder nach ihm benannt. Kein gutes Zeichen.
„Jay?“ Ich sah Edward an. „Darf ich mit ihm reden?“
Am liebsten hätte ich verneint, aber ich nickte zögerlich. Er strahlte.
Sofort blickte er wieder seinen wahrscheinlich biologischen Vater an. Ugh. „Ich heiße auch Edward!“
Jetzt sah Foster kurz verwirrt aus, bevor er ebenfalls strahlte. „Nur die ganz tollen und großen Jungs heißen Edward.“
Edward nickte heftig, bevor er nach einem der Kekse griff und ihn Foster hinhielt. „Willst du einen Keks haben? Heute gibt’s Kekse zum Frühstück, weil mein Burtstag ist.“, erklärte er aufgeregt.
Foster lächelte ihn an. „Sicher, danke.“
Dieser Tag würde definitiv nicht so ablaufen, wie ich es mir erhofft hatte.

Freitag, 15. April 2011

03 I’m kind of stressed here

03 I’m kind of stressed here
Jaysons PoV:
„Und krieg ich dann auch Kekse zum Mittagessen?“
Ich seufzte. Seitdem wir zu Hause losgelaufen waren, wurde ich mit Fragen bombardiert, was er sich alles zu seinem Geburtstag wünschen konnte und was einfach nicht möglich war bzw auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden musste. Zum Mond konnte ich ihn nicht einfach mal so fliegen. Auch wenn ich das gerade sehr gern getan hätte.
Meine Nerven lagen blank.
Mutter stritt nur mit mir über Kleinigkeiten – was ich ja eigentlich gewohnt sein sollte – aber selbst sie sollte wissen, dass ich irgendwann darüber hinwegsehen würde, dass sie meine Mutter und im 6. Monat schwanger ist. Irgendwann würde ich sehr wahrscheinlich austicken und sie langsam und qualvoll mit dem extra zarten Toilettenpapier erdrosseln, dass nebenbei bemerkt auch extrem reißfest ist, auf das sie so bestand. Dass wir das Geld dafür nicht hatten, war ihr ziemlich egal und natürlich sah sie auch nicht ein, Abstriche bei sich zu machen, statt bei meinem kleinen Bruder. Bei mir konnte sie schon nichts mehr streichen.
Ich hatte nämlich einen Nebenjob angenommen. Ich kellnerte in einer der Kneipen in unserer Gegend und trug Zeitung aus. Falls ich es jemals aufs College schaffen sollte, würde es garantiert nicht am Geld scheitern.
Aber auch von meinem Einkommen konnte ich mir nur das Notwendigste neben Lebensmitteln kaufen, wenn ich nebenbei auch noch für das College sparte. Zudem musste ich mit Argusaugen aufpassen, dass Mutter nicht vergaß, dass sie noch ein Kleinkind hatte, dem sie zumindest etwas zu Essen und Trinken kaufen musste.
Mein Job als Aufpasser zu Hause war also der Ätzendste von allen.
Hinzukam noch dass ich in der Schule voll da sein musste, Arbeiten schreiben, Referate halten und dergleichen. Abends ertappte ich mich gelegentlich dabei, einfach über meinen Hausaufgaben einzuschlafen. Ally hatte deswegen vorgeschlagen, ab sofort mit ihr Hausaufgaben zu machen, aber das würde wahrscheinlich auch nirgendwohin führen. Das hatte schon früher nicht geklappt und war nur in Sex geendet. Nicht gut.
Eins meiner wenigen Probleme würde sich zum Glück morgen in Luft auflösen. Edwards Geburtstag stand vor der Tür.
Ich konnte verstehen, dass er aufgeregt war und deshalb viele Fragen hatte, aber jeeeeeez… der Junge kannte da kein Erbarmen, der strich auch die Schlafenszeiten für Fragen. In den letzten drei Nächten war er zu mir ins Zimmer gekommen – immer sobald ich im Bett lag und mich schon diebisch darauf freute, endlich meine Augen schließen zu können – und hatte mir Fragen gestellt, bei denen ich meist nicht einmal wusste, wie er darauf gekommen war. Ein paar waren berechtigt und ein paar einfach… Nun gut. Nicht nur Mutter wurde in meinen Gedanken erdrosselt.
Gott, ich weiß, das klingt schrecklich. Er wird gerade mal 2 Jahre alt und ist einfach aufgedreht, aber verflucht wo blieb ich da? Ich war gerade mal 18. Und wo wir gerade dabei waren. Wann hatte ich gefeiert? Gar nicht. Ha! Ich saß entweder in der Schule, war bei einem meiner Nebenjobs, hechtete zwischen Allys Haus und unserer Wohnung hin und her oder versuchte meine Noten nicht absacken zu lassen.
Ich war müde, ausgelaugt, mental am Ende, aber das Ende war einfach nicht in Sicht. Freiwillig würde ich das nicht nochmal machen. Natürlich liebe ich meinen Bruder, aber hätte Mutter nochmal damit gedroht, ihn abzugeben, würde ich mit dem Wissen, was ich jetzt habe, wahrscheinlich zustimmen. Es hatte einen verdammten Grund, warum man in dem Alter keine Kinder bekommen sollte. Mag sein, dass manche damit umgehen konnten, aber andere – so wie ich – eben nicht! Später vielleicht, aber sich das nochmal zu geben? Jeez. Nein Danke.
Das mag alles ziemlich negativ klingen, aber versucht ihr mal, immer positiv zu sein, wenn alles, was ihr wollt, nur ein bisschen Ruhe und Schlaf und Zeit für sich ist, ihr es aber seit über drei Wochen nicht bekommt.
Ich holte also tief Luft und redete mir immer wieder ein, dass es morgen bereits vorbei war.
„Edward, du kannst nicht Kekse zum Mittagessen haben.“
Achtung, Schmollmund in drei zwei eins… die Unterlippe schob sich nach vorne und seine Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Aber ich will Kekse zum Mittagessen an meinem Geburtstag.“
Oh, das hatte ich ganz vergessen. Unser Sonnenschein war dank Schlafentzug schnell übellaunig und zickig und schmollte eigentlich die Hälfte des Tages. Wieder ein Problem, das sich morgen von allein lösen würde. Ich sollte mich darauf konzentrieren.
„Keine Kekse zum Mittagessen, Edward. Das ist mein letztes Wort.“
Ich atmete tief durch und zählte bis fünf und tada. Die ersten Tränen kullerten. Sobald er nämlich merkte, dass Schmollen keinen Sinn hatte, fing er an auf die Tränendrüse zu drücken. Man konnte ihm vieles unterstellen, aber nicht dass er leicht aufgab.
Edward blieb mitten auf der Straße stehen. Ugh.
Ich schloss kurz meine Augen, um mich mental auf das bevorstehende Drama vorzubereiten, als ich bereits das erste Hupen hörte. Also drehte ich mich schnell zu meinem Bruder um und hob ihn hoch, noch bevor er irgendwie protestieren konnte.
Nachdem wir auf der anderen Straßenseite angekommen waren, fing er an, sich aus meinem Griff zu winden und lautstark zu heulen. Kaum, dass seine Füße den Boden berührten, versuchte er zurück auf die Straße zu rennen. Mir blieb fast das Herz stehen, als er sich von mir losriss und weglief. Ich konnte in Gedanken schon das Hupen hören und dann die Sirenen eines Krankenwagen. Ein Horrorszenario nach dem anderen spielte sich vor meinem inneren Auge ab. Doch noch bevor ich ihn irgendwo packen konnte, hatte ihn zum Glück eine ältere Frau gegriffen – gerade noch rechtzeitig wohlbemerkt, ein Autofahrer hatte bereits gehupt – und meinen mehr als widerspenstigen Bruder zurück zu mir gezogen.
Sie sagte nichts zu mir, sondern schob ihn mir nur mit einem missbilligenden Gesichtsausdruck in die Arme. New Yorker waren vielleicht für sich genommen mehr Einzelgänger, aber total herzlos waren sie nun auch wieder nicht. Gott sei Dank. Was mich wieder zu folgendem bringt.
„Sag mal, spinnst du?! Bei Rot auf die Straße zu laufen! Du hättest überfahren werden können! Verflucht, Edward, schaltest du mal deinen Kopf ein. Sonst bist du auch nicht so dumm und leichtsinnig. Weißt du wie verdammt gefährlich das war?!“, schrie ich ihn an. Bevor ihr Steine werft, ich weiß, dass ich ihn nicht hätte anschreien sollen, aber der Schock saß mir noch ein wenig in den Knochen.
Edward stand indes vor mir und weinte immer heftiger. Immer hin versuchte er nicht mehr wegzulaufen. Ich zog ihn an mich und drückte ihn fest gegen meine Brust.
„Mach das nie wieder! Hörst du? Gott, ich hatte gerade so eine Angst!“
Er wimmerte leise und krallte sich an mir fest. Gott, was alles hätte passieren können.
Mein Herz beruhigte sich langsam wieder und ich wurde mir wieder bewusst, dass ich immer noch spät dran war. Ich hielt Edward ein wenig auf Abstand, damit ich ihm in die Augen gucken konnte.
„Versprich mir sofort, dass du nie wieder einfach auf die Straße rennst.“
Er nickte heftig. Der übliche Post-Heulerei-Schluckauf stellte sich ein.
„Ich will, dass du es sagst und meinst, Edward.“
Er nickte wieder heftig. „Ich mach das nie wieder. Ich schwöre.“
Ich musterte ihn und zog ihn dann wieder zu mir.
„Gut. Über die Bestrafung reden wir gleich, wenn wir bei Oma Sarah und Opa Ben sind.“
Er wusste inzwischen, dass die Bestrafung unvermeidlich war. Normalerweise protestierte er sofort, aber dieses Mal hatte wohl sogar er erkannt, dass er zu weit gegangen war.
„Komm. Ich trag dich, damit wir schneller da sind.“

„Oma Sarah!“, quiekte Edward, kaum dass wir im Haus waren.
Sarah kam aus der Küche auf uns zu und nahm ihn mir ab. „Na, JJ, bist du schon aufgeregt wegen morgen?“, lächelte sie.
Seine Geburtstagsfeier hatten wir hierher verlegt. Mehr Platz und weniger Menschen, die sich einen Dreck um ihre Kinder scherten.
Edward nickte heftig und grinste breit. Seine Augen waren immer noch rot und leicht geschwollen vom vielen Weinen. Erst zwei Blocks, bevor wir da waren, hatte er aufgehört zu weinen.
Natürlich entging diese Kleinigkeit nicht einer fürsorglichen Frau. Sarah musterte ihn kurz besorgt. Sofort hörte er auf zu lächeln und guckte auf den Boden. Er hatte nicht vergessen, dass die Bestrafung noch ausstand. „Ich war böse.“, nuschelte er.
Ihr Blick fiel kurz auf mich. „Was hast du denn gemacht, Schätzchen?“, hakte sie nach.
„Ich wollte Kekse zum Mittagessen zu meinem Geburtstag.“, wimmerte er leise, bevor ich sah, wie wieder neue Tränen liefen. Hoffentlich würde Sarah ihn zu einem Mittagsschläfchen bewegen können.
Sarah runzelte kurz ihre Stirn. „Kekse sind ja auch mehr Nachtisch, aber was ich nicht verstehe, ist, warum du deswegen böse sein sollst.“
Er drehte sich in ihren Armen und streckte seine Arme nach mir aus. Huh. Das hatte ich definitiv nicht erwartet. Ich nahm ihn wieder auf den Arm und er erdrosselte mich beinahe, so fest umklammerte er meinen Hals.
„Hey? JJ, du weißt, es ist unhöflich, auf Fragen nicht zu antworten.“, murmelte ich.
„Es tut mir leid.“, wimmerte er leise. „Ich wollte nicht auf die Straße laufen. Ich weiß, Straßen sind gefährlich. Aber…“ Er holte ein paar Mal Luft. „Es tut mir so leid. Ich mach es nie wieder.“
„Schon okay. Ent-“
„Bitte, gib mich nicht weg. Bitte! Ich mach auch alles, was du sagst. Keine Kekse zum Mittagessen. Gar keine Kekse mehr. Aber bitte, gib mich nicht weg.“ Er wurde immer lauter und am Ende schluchzte er beinahe unkontrolliert auf.
Sarah sah uns ein wenig entsetzt an. „Er ist auf die Straße gelaufen?“ Sie sah auch ein bisschen blass um die Nase aus.
Ich nickte nur leicht, bevor ich mich wieder Edward zuwandte.
„Edward, ich gebe dich sicher nicht weg. Davor brauchst du keine Angst haben.“ Ich seufzte. Als nächstes kam die Bestrafung, was mir gerade ziemlich schwer fiel. „Deine Entschuldigung ist akzeptiert, aber trotzdem wirst du bestraft. Verstanden?“
Er nickte.
„Gut. Es gibt die nächste Woche keine Kekse – ausgenommen morgen, aber da nur als Nachtisch nach dem Mittagessen. Und du musst heute dein Mittagsschläfchen machen. Verstanden?“
Er nickte heftig.
Sarah fixierte ihn kurz mit ihren Augen. Sie hatte diesen Blick drauf, den nur Eltern im Repertoire hatten. Diesen du-hast-scheiße-gebaut-und-ich-bin-enttäuscht-aber-ich-liebe-dich-immer-noch-Blick.
„Wann kommst du wieder?“, fragte er mich kleinlaut.
Ich musste kurz überlegen. Nach der Schule würde ich nur kurz vorbeikommen, aber nur um mich umzuziehen und eventuell noch ein paar Hausaufgaben zu machen. Danach musste ich in die Bar für vier Stunden, was darauf hinauslief, dass er bereits schlafen sollte, wenn ich wiederkam.
„Heute Nachmittag so um drei. Wenn du dein Mittagsschläfchen machst, dann dauert es gar nicht so lange, bis ich wieder da bin.“
Er seufzte. „Warum kann ich nicht mitkommen?“
Ohne die Aussicht auf Kekse fand er es wohl doch nicht so toll. Oder er spürte, dass Oma Sarah heute nicht so gut gelaunt sein und ihn machen lassen würde, was er wollte.
Ich schüttelte den Kopf. „Du bleibst brav hier. Dann machen wir nachher, wenn ich komme, etwas zusammen. Okay?“
Wieder seufzte er. „In Ordnung.“
Ich setzte ihn wieder auf dem Boden ab und verwuschelte sein Haar – was er hasste. Sofort griff er nach meinen Händen. „Aufhören!“
Ich lachte kurz. „Danke Sarah. Bis später.“
Sie nickte mir kurz zu und winkte, als ich rausging.

Samstag, 12. März 2011

02 Home

02 Home
Jaysons PoV

Die nächsten Wochen vergingen schnell, zu schnell für meinen Geschmack. Meine Mutter, denn Edwards war sie höchstens im biologischen Sinne, ignorierte uns größtenteils. Sie forderte nur dann unsere Aufmerksamkeit, wenn sie irgendetwas verloren hatte oder gerade allgemein schlechte Laune hatte und es an irgendjemandem ablassen wollte. Ich denke, ich muss nicht erwähnen, wer die meiste schlechte Laune abbekam.
An ihrem Geburtstag war sie nur am Morgen zu Hause und verbrachte den Rest des Tages mit ihrem Kerl irgendwo anders. Wo war mir egal. Das Chaos, das sie bereits an diesem Morgen verursacht hatte, genügte mir für den Rest des Tages.

„Mama! Alles Gute zum Geburtstag!“, rief Edward am Morgen, als sie die Küche betrat. Er war schon am Vorabend so aufgeregt gewesen, dass es ewig gedauert hatte, bis er eingeschlafen war. Wie er dann um sieben Uhr in der Früh so gut gelaunt sein konnte, war mir ein Rätsel.
Sie ging einfach an ihm vorbei, als existierte er nicht und nahm sich, wie jeden Morgen, eine Tasse aus dem Schrank, um sich Kaffee einzuschenken.
Ich begrüßte sie erst gar nicht. Wir hatten seit dem Filmabend nicht mehr miteinander gesprochen und egal wie kindisch es auch von meiner Seite war, ich war noch nicht bereit dazu, ihr das einfach so zu verzeihen, zumal sie erst zwei Tage später nach Hause gekommen war. Was ein Glück war es am Wochenende gewesen.
Nachdem sie ihre Tasse gefüllt und sich ihr Magazin geschnappt hatte, setzte sie sich an den Tisch und ignorierte uns wie gewohnt. Aber Edward gab nicht so leicht auf. Er war der festen Überzeugung, dass er seiner Mutter einen schönen Geburtstag bereiten musste, und er würde nicht so leicht aufgeben.
Er lief schnell zu ihr und blieb mit einem breiten Grinsen vor ihr stehen.
„Alles Gute, Mama! Ich hab ein Geschenk für dich.“, erklärte er ihr, während er ihr ein Blatt Papier hinhielt, dass er mit einem Band und meiner Hilfe zusammengerollt und –geschnürt hatte. Er hatte die letzten zwei Tage an diesem Bild gesessen und wie ein Besessener all seine Buntstifte über das Blatt fliegen lassen. Ich hatte ihm letztlich nur noch geholfen, ‚Happy Birthday, Mama!‘ darauf zu schreiben.
Da sie ihn und sein Geschenk weiterhin ignorierte, zupfte er an ihrem T-Shirt, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Hätte er es doch dabei belassen.
„Was willst du?“, giftete sie ihn sofort genervt an und starrte ihn wütend an.
Sein Lächeln wirkte jetzt eher unsicher, aber verschwand nicht ganz. „Ich hab ein Bild für dich gemalt. Zum Geburtstag! Guck!“ Wieder hielt er ihr das Bild hin.
Sie warf dem zusammengerollten, etwas zerknitterten Papier einen abschätzigen Blick zu und zuckte nur mit den Schultern. „Und was soll ich damit?“
Ich muss gestehen, fast hätte ich sie geschüttelt und angemotzt, dass sie sich wenigstens einmal freuen könnte, dass ihr Sohn, den sie nur ignorierte und wie Mist behandelte, ihr ein Geschenk machte, dass er selbst mühsam gemalt hatte. Aber ich hoffte noch. Warum, weiß ich nicht mehr. Es war dumm von mir.
Edwards anfängliches strahlendes Lächeln war einem Abklatsch dessen gewichen und man sah ihm an, dass nicht mehr viel fehlte, um es ganz verschwinden zu lassen.
Er stupste mit dem Papier leicht gegen ihren Arm. „Es ist ein Geschenk. Du musst es nur auspacken.“ Sein kindlicher Eifer ließ entschieden nach, als sie das Papier beinahe angeekelt ansah.
„Ich will es nicht. Schmeiß es weg und lass mir meine Ruhe.“, sagte sie kalt und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Magazin zu.
Die ersten Tränen standen meinem kleinen Bruder bereits in den Augen, als ich beschloss, dass es Zeit wurde, dass ich einschritt. „Guck es dir doch einfach an. Er hat sich viel Mühe gegeben und will dir an deinem Geburtstag nur eine Freude machen.“ Ich konnte gerade noch verhindern, sie anzuzischen und ausfallend zu werden.
Sie warf mir einen kurzen Blick zu. „Na und? Bleibt immer noch die Frage, was ich mit dem dreckigen, zerknitterten, vollgeschmierten Blatt anfangen soll. Das ist nur Müll und ich brauche keinen Müll.“
Mein Kiefer spannte sich an. Konnte sie denn nicht wenigstens so tun als ob?
Edward sah uns abwechselnd an und die Tränen fingen an zu kullern. Seine Unterlippe bebte und er sah ehrlich verletzt aus.
Ich warf meiner Mutter einen Blick zu, der sie hätte töten können, wenn es doch nur endlich möglich wäre, Menschen allein dadurch den Gar auszumachen, und ging auf meinen Bruder zu. Ich kniete mich zu ihm runter. „Ihr Pech, wenn sie dein tolles Geschenk nicht will.“ Darauf kam nur ein abschätziges ‚Tz‘ aus ihrer Richtung. „Ich würde mich riesig freuen, wenn du es mir schenken würdest.“
Dummerweise brachte dieser Satz nicht die erhoffte Reaktion. Stattdessen weinte Edward stärker und drückte das Papier an sich, was es nur noch mehr zerknitterte.
„Aber ich hab es für Mama gemalt. Es ist Mamas Geschenk. Sie hat doch Geburtstag.“, schluchzte er und wandte sich ihr wieder zu. „Mama, du willst mein Geschenk doch, oder? Ich hab es auch mit ganz viel Liebe gemalt.“
Ich betete zu Gott, dass er ihr doch wenigstens ein bisschen Gewissen geschenkt hatte, aber wie so oft enttäuschte er nur.
„Nein. Ich will dieses dreckige Stück Papier nicht. Schmeiß es endlich weg. Himmel Herr Gott nochmal! Es ist mein Geburtstag. Geh mir nicht ständig auf die Nerven, Balg.“
Und das war alles, was es bedurft hatte, um Edward für die nächsten Tage in sich zu kehren. Nachdem er aus der Küche gerannt war, hatte ich ihr kurz meine Meinung zu ihrem kaltherzigen Verhalten gesagt und war dann meinem Bruder hinterher gelaufen, da er definitiv Vorrang vor dieser Frau hatte.
Egal, wie sehr Ally oder ich versucht hatten, ihn aufzubauen, er blieb stumm und antwortete nur auf Fragen, die explizit an ihn gestellt worden waren. Wir hatten versucht mit ihm zu spielen oder seinen Lieblingsfilm zu gucken, aber er hatte zu nichts Lust, und als Ally verschlug, dass wir doch zusammen etwas Schönes malen könnten, hatte er nur erwidert, dass das alles nur Müll sei. Selbst Pat und Blacky ließ er allein in seinem Bett zurück.
Da ich so langsam nicht mehr wusste, was ich tun sollte, fragte ich Allys Eltern. Wie sich rausstellte, hatten die nur noch darauf gewartet, dass ich sie um Hilfe bat, da Ally ihnen bereits erzählt hatte, was passiert war.
Mrs. Johnsan, oder Sarah – sie bestand darauf, dass ich sie beim Vornamen nannte – war mir mehr eine Mutter als meine Leibliche. Sie war etwa Mitte vierzig. Immer wenn ich sie traf, lächelte sie mich an und erkundigte sich nach Edward. Anfangs hatte es mich gewundert, dass sie sich so für ihn interessierte, aber inzwischen war ich ziemlich froh darüber. Hätte er nur so eine Mutter…
Ihr Mann, Ben, auch etwa Mitte vierzig, war der ruhige, ausgeglichene Vater, den man sich wünschte. Man sah ihm an, wie viel ihm seine Familie bedeutete. Selbst als Ally mich ihm das erste Mal vorgestellt hatte, hatte er mir nur kurz mit körperlicher Gewalt gedroht, sollte ich ihr Herz brechen, aber danach tat er so, als wäre ich bereits ein Teil der Familie.
Während der Schwangerschaft meiner Mutter war ich oft bei ihnen gewesen und hatte meine Tage dort verbracht. Abends hatten sie mich immer nach Hause geschickt, da sie nicht wollten, dass meine Mutter glaubte, dass ich sie allein lassen würde. Inzwischen hatte sich ihre Sicht ein wenig geändert.
Ich glaube, Sarah wollte meiner Mutter mal so richtig die Meinung geigen und ihr das Jugendamt auf den Hals hetzen, aber sie wusste auch, dass ich inzwischen ziemlich an meinem kleinen Bruder hing. So versuchte sie, so gut es ging, mich dabei zu unterstützen, ihn irgendwie groß zu ziehen.
Drei Tage nach dem Geburtstag meiner Mutter saß ich bei ihnen im Wohnzimmer, während Ally Edward beinahe gewaltsam hinter sich her auf den Spielplatz gezogen hatte.
„Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.“, seufzte ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „So schlimm war es noch nie. Er lacht sonst immer so viel und jetzt weint er nur ständig und redete überhaupt nicht mehr. Was soll ich tun?“
Sie saß mir gegenüber in dem großen Sessel und blickte mich mitleidig an. „Jayson, ich weiß, du hängst sehr an deinem Bruder, aber hast du mal daran gedacht, dass es vielleicht das Beste wäre, wenn du ihn zu einer Pflegefamilie gibst?“
 Ich warf ihr einen wütenden Blick zu. Wir hatten schon einmal darüber gesprochen und sie sollte wissen, wie ich dazu stand.
„Ich weiß, ich weiß. Du liebst den Kleinen, aber meinst du denn nicht, dass er in einer stabilen Familie, die ihm Liebe und Zuwendung gibt, besser aufgehoben wäre? Ich weiß, du versuchst dein Bestes, aber du bist nicht einmal achtzehn Jahre alt, Junge. Du kannst das nicht allein schaffen. Und durch das Verhalten deiner Mutter wird immer mehr Schaden bei ihm angerichtet. Er ist noch so klein. Er braucht die Liebe einer Mutter oder zumindest eines Elternteils.“, erklärte sie ruhig.
Ich verstand, worauf sie hinaus wollte, aber dieser Punkt stand einfach nicht zur Diskussion. Also schüttelte ich meinen Kopf und sah aus dem Fenster.
„Ich gebe ihn nicht weg. Ally und ich sind alles, was er zurzeit hat. Was, wenn es das nur verschlimmert? Was, wenn er sich dadurch verraten fühlt? Ich will ja nur sein Bestes, aber ich kann ihn nicht einfach irgendwelchen Fremden überlassen, in der Hoffnung dass er es da besser hat. Ich kann nicht. Was, wenn es ihm da nicht gefällt? Was, wenn sie ihn nicht mögen? Dann kommt er doch nur vom Regen in die Traufe. Hier hat er wenigstens Ally und mich und das sicher.“
Sie seufzte und sah mich mit diesem mütterlichen Blick an. Ihr wisst schon, dieser Blick, der sowas sagt wie: Junge, ich verstehe dich, aber ich will nur das Beste für alle.
„Okay. Ich verstehe schon. Aber was willst du tun? Er braucht einen Erwachsenen, der sich richtig um ihn kümmert. Er verkümmert bei deiner Mutter. Du gehst bald aufs College und dann hat er dich auch nicht mehr. Was dann?“, fragte sie und sah mich erwartungsvoll an.
Ich hatte schon längst eine Entscheidung diesbezüglich getroffen. „Ich gehe nicht aufs College. Ich werde mir hier einen Job suchen. Ich werde ihn nicht allein lassen, schon gar nicht allein mit ihr.“
Darauf meldete sich Ben, der in dem anderen Sessel saß, und bisher kein Wort gesagt hatte. Er war mehr der ruhige Vater, der sich erst dann einklinkte, wenn er das Gefühl hatte, dass man wirklich Hilfe brauchte. Er behielt seine Meinung oft für sich, gemäß: Man muss eigene Erfahrungen sammeln. „Und was für einen Job willst du dir suchen? Es geht auch um deine Zukunft, Jayson. Deine Liebe zu deinem Bruder in aller Ehre, aber du musst auch an dich denken. Der Kleine hat richtige Eltern verdient. Ich weiß, es ist schwer mit dem Gedanken klar zu kommen, dass man selbst nicht genug ist, aber du bist nun mal nur sein Bruder und außerdem erst 17.“
Ich schüttelte wieder meinen Kopf. „Es muss eine andere Möglichkeit geben. Ich weiß, dass er richtige Eltern verdient hat, aber es muss eine andere Möglichkeit geben, das zu erreichen. Wenn ich ihn dem Jugendamt überlasse, sehe ich ihn doch nie wieder. Und, nein, das kann ich nicht. Es klingt vielleicht egoistisch, aber ich kann das nicht.“
Ben nickte leicht und lehnte sich zurück. Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. Sie schienen eine Art stumme Unterhaltung zu führen, bevor sie wieder das Wort ergriff. „Okay. Wir sind uns also einig, dass er jemanden braucht, der ihm Zuwendung und viel Aufmerksamkeit schenkt, der viel Zeit für ihn hat und für ihn da ist.“ Ich nickte leicht und warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Außerdem braucht er dich, als seinen Bruder, als seine Konstante, was im Falle einer Pflegefamilie wahrscheinlich nicht der Fall ist.“ Wieder nickte ich. Noch war mir nicht wirklich klar, worauf sie hinaus wollte. „Und du brauchst jemanden, der auf ihn aufpasst, während du in der Schule bist und selbst auch gelegentlich mal das Kind sein kannst, das du noch eigentlich bist.“ Ich zuckte ein wenig zusammen, denn ein Kind war ich nun wirklich nicht mehr, aber nickte nichtsdestotrotz. „In Ordnung. Ruf Ally an. Sie soll mit dem Kleinen hierher kommen.“
Ich starrte sie mit großen Augen an. Sie konnte doch nicht etwa?
Sie sah meinen ungläubigen Blick und lächelte mich an. „Ich sitze den ganzen Tag zu Hause. Ich bringe nur gelegentlich Kindern aus der Nachbarschaft das Klavier spielen bei. Somit habe ich viel Zeit. Außerdem habe ich selbst bereits ein Kind groß gezogen und weiß, wie ich mit einem Kleinkind umgehen sollte. Ich denke, wenn der Kleine sich hier wohl fühlt, kann er tagsüber ruhig hier bleiben. Insofern deine Mutter“ Sie sagte es eher abschätzig. „nichts dagegen hat. Er ist schließlich immer noch ihr Sohn. Aber so wie ich deine Mutter einschätze, wird sie eher erleichtert darüber sein.“
Ich blickte sie immer noch leicht verstört an.
Ben nickte. „Dadurch haben alle Parteien das, was sie brauchen und haben wollen.“
Ich sah ihn etwas verwirrt an, aber nickte nur in Richtung seiner Frau, die ein wenig rot anlief. „Nun ja. Wir hatten sowieso vor, dir diesen Vorschlag zu machen. Ich hab Edward schon längst in mein Herz geschlossen, obwohl ich ihn noch nicht einmal gesehen habe. Dann hätte ich auch endlich wieder etwas zu tun und ich liebe nun mal Kinder.“, seufzte sie.
Es überraschte mich ein wenig, dass sie so bereitwillig ein ihr fremdes Kind aufnehmen wollte. Aber es stand ja auch nichts fest. „Das würdet ihr wirklich tun?“ Ich hoffte inständig, dass das die Lösung war, die ich gesucht hatte.
Wir warteten nach meinem Telefonat mit Ally nur noch auf deren Rückkehr. Wenn das Treffen gut lief, dann könnte Edward tagsüber hier bei Sarah bleiben. Ich wagte es noch nicht, es als Tatsache zu akzeptieren, da mein Bruder zurzeit berechtigterweise ein wenig neben sich stand. Ich wusste nicht wirklich, wie er reagieren würde.
Es sollte nicht ganz so ablaufen, wie ich es erwartet hatte, aber letzten Endes war alles doch gut.
Als Ally mit ihm vor der Haustür stand, öffnete Ben die Tür und ließ die beiden rein. Edward sah irgendwie verängstigt aus und suchte sofort den Raum nach mir ab. Kaum dass er mich erblickt hatte, ließ er Ally stehen und lief auf mich zu. Er hob seine Arme, um mir zu zeigen, dass er auf den Arm gehoben werden wollte.
Eigentlich hätte ich ihn darauf hinweisen sollen, dass er erst Allys Eltern begrüßen sollte, aber es war das erste Mal seit Tagen, dass er überhaupt hochgehoben werden wollte. Er hatte Angst und kam zu mir, damit ich ihn beschützte. Also hob ich ihn hoch. Sofort schlangen sich seine kleinen Arme um meinen Hals und vergrub sein Gesicht in meinem Hals. Er sah nur kurz rüber zu Allys Eltern, bevor er sich weiter an mich drückte und irgendwas vor sich hinnuschelte.
Sarah sah ihn mitleidig an, während Ben ihn genau studierte.
„Edward, willst du nicht Allys Eltern Hallo sagen?“
Ich stupste ihn leicht an, aber er schüttelte nur heftig mit dem Kopf. Ich seufzte leise.
„Aber das ist nicht nett. Sie tun dir auch nichts. Sie sind beide ganz liebe Menschen.“
Wieder schüttelte er nur vehement mit dem Kopf. Sarah sprang schnell ein, da sie offensichtlich spürte, dass das hier zu nichts führen würde. Sie kam langsam auf die Couch zu und setzte sich neben mich.
„Hallo Edward. Ich bin Sarah, Allys Mama.“ Sie lächelte ihn ermutigend an, aber er warf ihr nur kurz einen Blick zu, bevor er sicher wieder an mich klammerte, als ginge es um sein Leben.
Ben sah zu seiner Frau. Die beiden schienen sich wieder nur mit Blicken zu unterhalten.
Sarah lächelte uns an. „Ich wette, du hast Durst und Hunger, genauso wie dein großer Bruder. Ich hol euch eben was, ja?“
Sie wartete auf seine Antwort, aber bekam keine. „Danke.“, sagte ich.
Sie nickte und verließ zusammen mit Ally und Ben den Raum, um uns etwas Privatsphäre zu geben.
Als ich versuchte, Edward von mir zu lösen, um ihn ansehen zu können, fing er an zu weinen und noch mehr zu klammern. Ich wurde einfach nicht schlau aus seinem Verhalten, also beschloss ich, dass es das Einfachste sein würde, wenn ich ihn einfach fragte.
„Edward, was ist los? Du bist doch sonst nicht so unhöflich. Hast du Angst vor den beiden?“
Er schüttelte schnell den Kopf.
„Was dann, Edward? Du musst mir sagen, was los ist. Ich kann dir doch sonst nicht helfen.“
Er weinte leise und nuschelte irgendetwas, was ich aber nicht verstand. Also harkte ich nach.
„Komm schon. Ich weiß, du kannst richtig sprechen. Ich versteh dich nicht, wenn du so nuschelst.“
Er holte ein paar Mal tief Luft und setzte erneut an. „Du willst mich nicht mehr. Du willst mich hier lassen.“
Also ganz ehrlich, ich hatte mir vielem gerechnet, aber nicht damit. Ich war kurz baff und fragte mich, wie er wieder auf diesen Gedanken kam. „Warum sollte ich denn nicht mehr wollen? Du weißt doch, dass ich dich viel zu lieb hab, als dass ich dich freiwillig hergeben würde.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Du willst mich nicht mehr. Ich nerve nur.“
Ich sah ihn entsetzt an. Ich versuchte mich schnell wieder zu fangen. Irgendwoher musste diese Idee stammen und ich befürchtete auch schon zu wissen woher. „Edward, sieh mich an.“ Er gehorchte und sah mich aus seinen verweinten Augen an. „Ich würde dich nie weggeben. Du bist auch nicht nervig. Ich hab dich lieb und das weißt du auch.“
„Aber Mama hat gesagt, ich bin nervig und dass sie mich gar nicht wollte und dass sie mich weggeben will.“, schluchzte er. Ich sah ihn kurz verwundert an.
„Edward, wann hat Mutter das gesagt?“ Der erste Teil war nicht neu, sie warf uns beiden das ständig vor, aber die letzten beiden Teile waren neu. Sie hatte doch nicht etwa?
„Ich wollte Mama gestern helfen. Ich… ich hab ihr Milch gebracht, aber… aber mir ist das Glas runtergefallen. Mama war wütend und laut und… und hat gesagt, dass sie mich… mich weggeben will, dass… dass ich gar nichts richtig kann…“
Sein ganzer Körper schüttelte sich, so stark weinte er inzwischen. Er sah mich auch nicht mehr an, sondern rieb sich immer wieder mit den Händen über die Wangen.
„Dann… dann hat sie gesagt, ich soll nicht so heulen… aber… aber ich konnte nicht aufhören…“
Ich sah ihn mitleidig an. Ich hatte nichts davon mitbekommen, weil ich in der Schule gewesen war. Mutter war auf hundertachtzig gewesen, als ich nach Hause kam, aber ich hatte mir nichts dabei gedacht.
Ich zog ihn zu mir und drückte ihn an mich. „Shh, Edward… beruhig dich…“, versuchte ich ihn zu beruhigen, aber er schien mich überhaupt nicht zu hören.
„Und dann… dann hat sie die Kissen nach mir geworfen… und gesagt… dass sie mich gar nicht wollte… dass ich eine Strafe bin… und Strafen sind böse… das weiß ich… Warum sagt Mama, dass ich böse bin?“, wimmerte er.
„JJ, du bist nicht böse. Du bist auch keine Strafe. Mutter war wütend und hat Sachen gesagt, die sie nicht gemeint hat.“, versuchte ich ihm zu erklären. Ich weiß, es war eine Lüge, aber sollte ich meinem kleinen Bruder ernsthaft sagen, dass seine Mutter ihn aus irgendeinem Grund hasste und ihn schon mehrmals beinahe weggegeben hätte? Eben.
„Aber Mama war so wütend. Ich hab doch nicht mit Absicht…“ Weiter kam er nicht. Er bekam Schluckauf vom vielen Weinen und kriegte kaum mehr ein Wort raus.
Ich strich ihm die ganze Zeit beruhigend mit einer Hand über den Kopf und mit der anderen über den Rücken. So schlimm war es bisher noch nie gewesen. Meine Mutter hatte sich mal wieder selbst übertroffen.
„JJ, ich weiß, dass das ein Versehen war. Das kann passieren. Es ist wirklich nicht schlimm. Du darfst nicht auf Mutter hören, okay?“
Er holte tief Luft und versuchte sich scheinbar zu beruhigen.
„Und das nächste Mal, wenn Mutter so wütend war, kommst du gleich zu mir, ja?“
„Und wenn du nicht da bist? Dann bin ich allein und dann gibt Mama mich weg und dann bin ich weg und dann…“, wimmerte er wieder.
„Hey, hey, das wird nicht mehr passieren, ich verspreche es. Du wirst nicht mehr allein bei Mutter bleiben, okay?“ Wahrscheinlich hätte ich das Thema anders anschneiden sollen, aber jetzt war es sowieso bereits zu spät.
Er runzelte seine Stirn und kräuselte seine Nase. „Aber du gehst zur Schule und dann bin ich allein.“
Ich schüttelte langsam meinen Kopf und setzte ihn so auf meinen Schoß, dass ich ihn richtig angucken konnte. „Wie findest du Allys Mama Sarah?“
Er sah kurz nachdenklich runter, während er immer wieder tief Luft holte. Gelegentlich hickste er noch, aber immerhin hatte er aufgehört zu weinen.
„Ich weiß nicht.“
„Also ich finde sie super nett. Sie hat auch immer Kekse hier, wenn ich da bin, und Milch!“ Okay, nicht der Beste Ansatz, ihn mit Keksen und Milch zu bestechen, aber, wenn er sie mochte, war das hier alles wesentlich einfacher.
„Kekse?“, fragte er kurz nach und wurde gleich danach von seinem Schluckauf durchgeschüttelt.
Ich riss die Augen auf und grinste. „Die besten Kekse überhaupt! Und sie macht sie alle selbst. Manchmal darf ich sogar die Schüssel auslecken, wenn sie Kekse macht.“
Seine Augen wurden groß und leuchteten wieder ein bisschen. Wie schnell er sich von seinen Heulkrämpfen erholte, erstaunte mich immer wieder, aber ich nahm an, dass lag an seiner Art und daran dass er doch noch sehr jung war. Er war leicht bestechbar…
„Du darfst den Teig einfach so essen?“
Ich nickte heftig und grinste ihn an. Er sah kurz nachdenklich aus, dann lächelte er mich schüchtern an.
„Darf ich das auch?“
Ich tat nachdenklich und legte einen Finger an mein Kinn, während ich an die Decke schaute. Er beobachtete mich ganz genau. „Also ich nehme an, du darfst, aber ich weiß es nicht.“ Ich sah ihn wieder an und er wirkte ein wenig traurig. „Aber weißt du, wer das weiß?“
Er schüttelte seinen Kopf und sah mich erwartungsvoll an.
„Sarah. Ich wette, wenn du lieb zu ihr bist, dann gibt sie dir Kekse und lässt dich auch den Teig essen.“
Noch bevor ich noch etwas sagen konnte, war er von meinem Schoß gerutscht und zog an meiner Hand.
„Komm! Kekse!“
„Okay, okay. Ich komme schon, aber denk dran. Erst musst du Ally Papa und Sarah begrüßen und dich entschuldigen, dass du es nicht vorhin gemacht hast.“
Er nickte leicht, während er nachdenklich seine Stirn in Falten legte. Wahrscheinlich war ihm gerade selbst aufgefallen, dass Sarah vorhin gar nicht so böse aussah und er nicht nett gewesen war und das eventuell seine Chancen auf Kekse schmälerte.
Ich ging mit ihm in die Küche, wo die Johnsans alle an einem Tisch saßen. Kaum dass wir im Türrahmen standen, versteckte Edward sich halb hinter mir und beobachtete Ben genau. Dieser ließ ihn auch nicht aus den Augen. Dann wanderte sein Blick zu Sarah und er sah ein wenig verängstigt aus. Also beschloss ich ihm ein wenig zu helfen.
Ich hob ihn hoch und ging mit ihm auf dem Arm rüber. „Da sind wir wieder.“
Ally und Sarah lächelten uns an. Edward holte kurz Luft. „Hallo Allys Mama. Tut mir leid, dass ich gedacht habe, dass sie böse sind.“, kam es schüchtern von ihm.
Sarah strahlte ihn an. „Hallo Edward. Es sei dir verziehen, solange du es ehrlich meinst.“
Er nickte schnell und vergrub dann sein Gesicht an meinem Hals. Er lugte kurz rüber zu Ben, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte. Ben hatte wohl gespürt, dass es Edward bei ihm ein wenig schwerer viel, und beschloss ihm ein wenig zu helfen. „Hallo Edward, freut mich dich kennen zu lernen.“
Edward sah erst kurz rüber zu Sarah, dann zu Ally und dann wieder zu mir. Ich piekte ihm leicht in die Seite. Er sah schnell rüber zu Ben. „Hallo Allys Papa.“ Als dieser ihn anlächelte, entspannte er sich etwas und versuchte sich aus meinem Griff zu winden. Ich setzte ihn auf dem Boden ab. Kaum dass er Kontakt zum Boden hatte, lief er schnell zu Sarah und blieb vor ihr stehen.
Er hielt seine Arme hinter seinen Rücken und sah kurz zu Boden, bevor er sie unschuldig anschaute. „Jay hat gesagt, wenn ich lieb bin und frage, dann krieg ich vielleicht Kekse.“ Kurzer Blick zu Boden, dann wieder Blickkontakt aufnehmen. „Krieg ich bitte einen Keks?“
Sarah lächelte ihn an und beugte sich leicht zu ihm runter. Er zuckte nicht mal zurück. Wenn es um Süßigkeiten ging, war er schwer einzuschüchtern. „Magst du denn Schokokekse?“, fragte sie.
Er nickte heftig und seine Augen wurden riesig. „Ja, das sind meine liebtesten Kekse überhaupt!“
Sie lachte leicht und stand von ihrem Platz auf und ging zum Schrank. Dort nahm sie die Keksdose und ging wieder auf ihren Platz. Edward ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen.
Sarah setzte sich wieder. „Hat dein Bruder dir denn erlaubt, einen Keks zu essen?“
Er sah mich flehend an. „Darf ich? Bitte, bitte, bitte. Ich bin auch ganz lieb.“
Ich schaute ihn an. „Wenn du nachher brav dein Gemüse ist, ohne wenn und aber.“ Er nickte heftig mit dem Kopf. „Okay, dann darfst du.“
Er strahlte über sein ganzes Gesicht. Wahrscheinlich würde er trotzdem meckern, aber dieses Strahlen nach all den Tagen war es mir irgendwie wert.
Sarah reichte ihm den Keks, den er glücklich entgegennahm und dann zu mir marschierte. Als er meinen Blick sah, legte er seinen Kopf schief. „Was denn, Jay?“ Ziel erreicht. Manieren vergessen.
„Du musst noch danke zu Sarah sagen.“, erinnerte ich ihn.
Er drehte sich schnell um und bedankte sich bei ihr, bevor er zu mir lief und seine Arme hob. Nachdem er auf meinem Schoß saß, aß er seinen Keks glücklich und strahlte alle an.
Als er fertig war, beschloss ich, dass es für heute genug war. Heute war Freitag. Morgen würden wir wieder kommen und ihn langsam an Sarah und Ben gewöhnen.
Was natürlich nicht allzu schwer war. Nachdem Ben ihn mit zwei heimlich geschmuggelten Keksen bestochen hatte, war Edward kaum von ihm loszukriegen.
Die Frage, ob er Probleme damit hatte, morgens, während ich in der Schule war, hier zu bleiben, hatte sich eindeutig erledigt. Ich hatte eher Probleme ihn nachmittags nach Hause zu bekommen.

So verliefen die letzten Wochen in einem angenehmen Rhythmus. Meine Mutter hatte natürlich kein Problem damit, dass sich jemand ihres Problems annahm. Sie hatte lediglich mit den Schultern gezuckt und gefragt, warum ich sie überhaupt um Erlaubnis gebeten hätte, sie würde ihn ihnen auch ganz überlassen, wenn sie ihn haben wollten.
Leider kam dann eine Überraschung, mit der niemand gerechnet hatte.
Eines Abends verkündete Mutter, dass sie vormittags beim Arzt gewesen sei. Zuerst hatte ich mich gewundert, warum genau sie das für erwähnenswert hielt, aber dann ließ sie die Bombe platzen.
Sie strahlte mich glücklich an, ignorierte Edward, der sie gespannt anguckte, und erklärte dann seelenruhig, dass sie im vierten Monat schwanger sei.
What the fuck?!

Freitag, 11. März 2011

01 – Protège Moi

01 – Protège Moi
Jaysons PoV

„Ich gratuliere, es ist ein Junge!“
Meine Mutter freute sich sicher am wenigsten von allen im Raum, als mein Bruder auf die Welt kam. Eigentlich hatte sie ihn auch gar nicht bekommen wollen. Sie hatte oft mit dem Gedanken gespielt, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, hatte es dann aber doch nicht getan. Erst verstand ich es nicht, wo sie schließlich so unglücklich über diese Schwangerschaft war, aber kaum dass ich meinen kleinen Bruder sah, wusste ich, dass ich an ihrer Stelle dasselbe getan hätte. Obwohl ich mir noch bis heute sicher war, dass sie nicht dieselben Gründe hatte wie ich.
Nach der Geburt hatte sie ihn kaum eines Blickes gewürdigt und einfach den Schwestern überlassen. Meine Freundin und ich folgten der Schwester mit dem kleinen Bündel, dass tatsächlich mein Bruder sein sollte und warteten darauf, dass sie alle wichtigen Untersuchungen durchführten. Er war zum Glück vollkommen gesund. Wohl das einzige Glück was er hatte, wo er schon in unsere Familie geboren wurde.
Wir beobachteten durch eine Glasscheibe, wie sie ihn reinigte und er sich dabei seine kleine Lunge förmlich rausschrie.
Ally sowie die Schwester umschwärmten den Kleinen den ganzen Tag. Unsere Mutter schien sich überhaupt nicht für ihn zu interessieren. Sie weigerte sich an manchen Tagen sogar, ihn zu sehen. Das würde sich auch niemals wirklich geben. Sie tat einfach so, als existierte er nicht.
Ich selbst wusste noch nicht genau, wie ich zu dem kleinen Klumpen Leben stand. Ich war gerade mal 16. Bevor er auf die Welt kam, war ich fest davon überzeugt gewesen, dass unsere ‚Familie‘ nichts Schlimmeres hätte wiederfahren können. Meine Mutter war einfach nicht zur Mutter geboren. Sie konnte mit Kindern überhaupt nicht umgehen und nun hatte sie schon zwei davon. Außerdem war meine Freundin, Ally, viel zu interessiert an dem Zwerg. Ich muss zugeben, teilweise war ich auf meinen ungeborenen Bruder ein wenig eifersüchtig.
In den ersten Tagen zu Hause kristallisierte sich deutlich eine Routine heraus. Meine Mutter ignorierte ihren Neugeborenen so gut sie konnte und Ally und ich übernahmen so ziemlich alle Pflichten, die anstanden. Nach den ersten Malen konnte sogar ich die Windeln problemlos wechseln.
Eigentlich war Edward – Das war, glaube ich, das Einzige, was unsere Mutter seit seiner Geburt überhaupt für ihn getan hatte; die Namensgebung. – ein recht angenehmes, eher ruhiges Baby. Er schrie immer nur, wenn ich aus der Schule kam, weil meine Mutter ihn die ganze Zeit über ignoriert hatte und, ich würde es ihr auch zutrauen, dass sie ihn wahrscheinlich nicht mal gefüttert hatte. Er schlief lang, bereits nach drei Monaten konnte ich die erste Nacht wieder durchschlafen.
Wenn Ally da war, half sie mir, so viel sie konnte. Der Kleine hatte bei ihr eindeutig ein Stein im Brett. Sie unterhielt sich die ganze Zeit mit ihm und hatte ihn beinahe ununterbrochen auf dem Arm. Wenn ich nicht genauso mit ihm umgegangen wäre, wäre ich wahrscheinlich eifersüchtig geworden.
Unsere Zeit verbrachten wir also meistens zu dritt. Anfangs war das auch nicht schlimm, aber wir waren gerade mal 16.
Als Edward anderthalb Jahre alt war, konnte er reden und laufen. Nach wie vor war er eins der wohl unproblematischsten Kinder überhaupt. Er weinte beinahe nie und lachte viel. Er machte auch nichts kaputt, zumindest nicht mehr, seitdem er ausversehen eine Tasse Kaffee vom Tisch gestoßen hatte, die daraufhin zerbrochen war, und unsere Mutter ihn so zusammen gestaucht hatte, dass er die nächsten zwei Tage keinen Mucks von sich gab und sich in seinem Zimmer versteckte.
Ally und ich waren inzwischen fast 3 Jahre zusammen. Ich wollte mit ihr ins Kino gehen, was sowieso schon recht selten passiert war, auch bevor Edwards Geburt, da Kino Geld kostete und meine Familie nun mal keins hatte.
Wir hatten diesen Abend bereits drei Wochen im Voraus geplant. Ich hatte meiner Mutter auch drei Wochen vorher Bescheid gesagt, damit nichts dazwischen kommen konnte. Aber meine Mutter hatte einen neuen Stecher. So kam es, wie es kommen musste.
„Mom, ich hab dir doch gesagt, dass ich heute Abend mit Ally weggehe. Ich kann nicht auf ihn aufpassen.“
„Das ist doch nicht mein Problem. Ich werde jedenfalls nicht hier bleiben, um auf das Balg aufzupassen.“
Ich hatte am Nachmittag ein Gespräch von ihr mit ihrem Kerl gehört und erfahren, dass sie den ganzen Abend und wahrscheinlich die Nacht mit ihm verbringen würde. Ich war selbstverständlich nicht gerade begeistert.
Nun standen wir uns hier gegenüber und stritten uns bestimmt schon seit zehn Minuten darüber, dass sie nicht einfach machen konnte, was sie wollte. Wer war hier bitte schön der Erwachsene von uns?
„Er ist dein nicht mal zwei Jahre alter Sohn! Du kannst ihn nicht einfach hier allein lassen!“
Sie zuckte nur mit den Schultern und blätterte durch irgendein Magazin, das ich ihr irgendwie ganz gern um die Ohren gehauen hätte.
„Ich kann und ich werde. Außerdem ist er deine Verantwortung. Ich hätte ihn eigentlich schon längst weggegeben.“
Und das hätte sie. Sie war einmal schon so weit gewesen, dass sie beim Jugendamt angerufen hatte, um ihnen mitzuteilen, dass sie ihn holen sollten, aber ich hatte sie angefleht, es nicht zu tun. Ihre einzige Antwort darauf war dann gewesen, dass er ab sofort mein Problem sei. Zum Glück hatte sie außerhalb der Bürozeiten angerufen, wie ich später herausfand. Was wäre wohl passiert, hätte jemand dieses Gespräch mit angehört?
So langsam wurde ich wirklich wütend.
„Verflucht nochmal, ich habe dich gebeten, nur einen Abend auf ihn aufzupassen! Du kümmerst dich nie um ihn! Ich will doch nur einen Abend mit meiner Freundin verbringen, ohne ihn! Einen!“
Mit jedem Satz wurde ich lauter. Störte das meine Mutter? Nicht im Geringsten. Sie saß weiterhin unberührt da, als ob es darum ginge, wer die Milch leer gemacht und keine Neue geholt hatte. Unfassbar.
Wieder zuckte sie mit den Schultern.
„Na und? Dann lass ihn halt hier. Der wird schon nicht sterben, nur weil er mal einen Abend allein ist. Ich werde jedenfalls nicht hier bleiben.“
Und damit legte sie das Magazin zur Seite, stand auf und verließ den Raum.
Ich stöhnte auf. Diskussion beendet. Der Abend war gelaufen und ich auf hundertachtzig.
Ich schnappte mir das Haustelefon und rief Ally an. Sie war wie immer verständnisvoll und schlug vor, dass wir einfach einen gemütlichen Filmabend bei mir machen konnten. Edward ginge schließlich auch irgendwann ins Bett. Ich stimmte ihr widerwillig zu.
Es war einfach unfair. Nicht mal ein Abend war uns vergönnt.
Sie wollte gegen 18 Uhr zu mir nach Hause kommen. Ich hatte in der Zwischenzeit für die Schule gelernt und nebenbei das Essen vorbereitet. Meine Mutter war bereits gegen 17 Uhr mit ihrem Kerl, James oder wie er hieß, verschwunden. Sollte sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Als es klingelte, riss ich förmlich die Tür auf. Ich war immer noch wütend darüber, dass unsere Pläne ins Wasser gefallen waren. Ich begrüßte sie schnell. Wir deckten gemeinsam den Tisch und verteilten schon mal das Essen auf den Tellern.
Es dauerte ewig, bis Edward auf meinen Ruf, dass das Essen fertig sei, reagierte und in die Küche kam. Er begrüßte Ally nur ganz kurz, was schon untypisch war, und verhielt sich auch während dem Essen ziemlich ruhig. Er gab kaum ein Wort von sich, starrte nur auf seinen Teller und aß wenig davon. Selbst wenn wir ihn direkt anredeten, antwortete er so knapp es ging.
Irgendwas stimmte da nicht, aber ich war an diesem Abend zu wütend, als dass ich es richtig bemerkt und nachgehakt hätte.
„Kann ich aufstehen?“ war wohl das Längste, was er an diesem Abend unaufgefordert gesagt hatte. Er hatte so gut wie nichts von seinem Essen angerührt und schaute immer noch nicht auf.
Ally sah ihn besorgt an und nickte. Sie wollte ihm helfen, von dem hohen Stuhl runterzukommen – natürlich besaßen wir keinen von diesen sicheren Hochstühlen – aber er lehnte ab und rutschte langsam von dem Stuhl.
Kaum dass wir hörten, wie seine Zimmertür sich schloss, sah sie zu mir.
„Ist irgendetwas passiert?“
Sie war nur besorgt, dass wusste ich, aber in diesem Moment machte es mich noch wütender, als ich sowieso schon war.
„Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen? Er ist nur ein Kleinkind, die haben eben solche Phasen. Warum muss immer was passiert sein, wenn er sich irgendwie anders verhält?!“
Ich reagierte wirklich über, das wusste ich, ich konnte es nur nicht stoppen.
Sie sah kurz überrascht aus, dann seufzte sie.
„So habe ich das nicht gemeint. Ich dachte, irgendetwas wäre passiert, dass das verursacht hat. Du hast Recht. Vielleicht ist er nur müde.“
Wir wollten uns heute beide nicht streiten. Wir räumten gemeinsam die Küche auf und unterhielten uns über dies und das.
Als es 19 Uhr wurde, ging ich die Treppen hoch, um nach Edward zu sehen und ihn Bett fertig zu machen. Ich klopfte an seine Tür und ging rein. Er holte bereits seinen Schlafanzug raus und lief schnell an mir vorbei ins Bad. Nach seinem abendlichen Bad putzte er sich brav die Zähne – immer noch ohne ein Wort zu sagen – und marschierte dann in sein Zimmer zurück. Dort legte er sich sofort in sein Bett und zog seine Decke bis an sein Kinn hoch. Auf meine Frage, ob ich ihm etwas vorlesen sollte, schüttelte er nur schnell den Kopf und drehte mir den Rücken zu.
Ich überlegte für einen Moment, ob ich ihn nicht fragen sollte, was los sei, aber verwarf die Frage dann doch wieder. Er würde schon anfangen zu reden, wenn er soweit war.
Ich wünschte ihm noch eine gute Nacht, machte das Licht aus und verließ sein Zimmer.
Ally wartete unten im Wohnzimmer bereits mit Popcorn und einem Film. Sie betrachtete mich für einen Augenblick, aber als ich nur mit den Schultern zuckte, wandte sie ihren Blick wieder dem Fernseher zu.
Wir hatten gerade mit dem zweiten Film angefangen, als ich sah, wie sich in der Nähe der Tür bewegte. Ich wandte meinen Kopf in die Richtung und erblickte meinen kleinen Bruder. Ihm liefen Tränen über die Wangen und er presste seine beiden einzigen Plüschtiere an sich.
Ich stand schnell auf, ging zu ihm und kniete mich vor ihn. Ally hatte ihn erst bemerkt, als ich aufgestanden war. Sie sah zu uns beiden rüber und schien im ersten Moment genauso ratlos wie ich zu sein.
„Hey JJ, was ist denn los?“, fragte ich ihn besorgt. Als er zu sprechen gelernt hatte, war ihm sein Name zu schwer. Wenn Leute ihn fragten, wie er denn heiße, hatte er immer JJ gesagt, Jay Junior. Beim ersten Mal hatte ich noch gelacht und die Leute hatten mich seltsam angesehen, aber beim zweiten Mal war ich irgendwie stolz auf meinen kleinen Bruder gewesen. Irgendwann konnte er seinen Namen dann auch sagen und JJ blieb nur noch als Spitzname hängen.
Er sah mich nur mit großen, traurigen Augen an, reagierte sonst aber nicht darauf, dass ich ihn angesprochen hatte.
„Du musst mit mir reden, sonst weiß ich doch nicht, was los ist, und kann dir nicht helfen.“
Darauf weinte er noch mehr und sein kleiner Körper bebte. Besorgt sah ich kurz zu Ally, die das Ganze verfolgte. Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
Ich seufzte leise und hob ihn hoch. Er ließ die beiden Kuscheltiere fallen und klammerte sich an meinen Hals.
„Hey, hey, was ist denn los?“
Zur Antwort schüttelte er nur den Kopf und krallte sich noch mehr an mir fest.
Etwas verwirrt stand ich auf und ging mit ihm rüber zur Couch und setzte mich neben Ally. Sie strich ihm sanft durch sein Haar.
„Edward, ist etwas passiert? Hast du einen Alptraum gehabt?“, fragte sie, während sie ihm weiterhin beruhigend über den Kopf fuhr.
Dieses Mal nickte er, aber gab sonst keine Antwort.
„Verstehe. Ich hab auch manchmal Alpträume. Die machen einem ganz schön Angst, huh?“ Wieder ein Nicken und er sah kurz zu ihr.
„Weißt du, was dagegen hilft?“ Längerer Blickkontakt und ein Kopfschütteln.
„Also mir hilft immer, wenn ich darüber mit jemandem rede. Jay hat auch Alpträume und dann ruft er mich mitten in der Nacht an, wusstest du das?“ Wieder ein Kopfschütteln.
Ally nickte langsam und lächelte ihn sanft an.
„Doch. Sogar dein großer Bruder hat manchmal Alpträume und braucht dann jemanden. Also willst du uns davon erzählen? Dann können wir dir helfen.“
Er blickte für einen Moment die Wand an und schien zu überlegen, bis er langsam nickte.
„Okay. Erzähl uns von deinem Traum. Dann wissen wir, was wir machen müssen.“
Er atmete tief durch. Aber bevor er anfing zu reden, warf er seinen Plüschtieren einen sehnsüchtigen Blick zu. Ally verstand sofort und holte sein Schaf und seinen Lemur. Die hatten wir ihm irgendwann gekauft, als wir mit ihm in der Mall gewesen waren. Es waren bis heute die einzigen Kuscheltiere, die er bekommen hatte, und er ließ sie eigentlich nie aus den Augen.
Kaum dass Blacky, das Schaf, und Pat, der Lemur, wieder in greifbarer Nähe waren, entspannte er sich ein wenig. Er sah mich kurz an, bevor er seine Augen auf den Lemur richtete.
„Ich… ich hab geträumt, dass Mama mich nicht mehr will und dass sie mich einem großen, dicken, bösen Mann schenkt, der mich immer ohne Essen ins Bett schickt und Pat und Blacky wegwirft. Und… und… du wolltest mich auch nicht mehr. Du hast einfach nur zugeguckt, wie er mich mitgenommen hat. Ich hab dich gerufen, aber du hast nur den Kopf geschüttelt und bist weggegangen.“ Er zitterte wieder am ganzen Körper. „Keiner will mich.“
Ally saß genauso geschockt wie ich da. Ich vermutete stark, dass er einen Teil von dem Gespräch vom Nachmittag mit angehört hatte.
Ich saß dort und wusste kurzfristig nicht, wie das passieren konnte. Ally schritt schnell ein, bevor die Situation eskalieren konnte.
Sie strich ihm sanft über die Wange und lächelte ihn wieder sanft an.
„Edward, dein Bruder liebt dich. Er würde dich niemals weggeben, das verspreche ich dir.“
Er sah nicht überzeugt aus und ließ seinen Blick auf den Boden schweifen.
Es wurde Zeit, dass ich aus meiner Starre erwachte, bevor er ernsthaft glaubte, dass ich ihn einfach kampflos gehen lassen würde.
„JJ, sieh mich bitte an.“ Widerwillig hob er den Kopf. „Ich hab dich lieb und ich würde es niemals zulassen, dass Mutter dich einfach an irgendwen verschenkt. Niemals, hörst du mich?“
Edward sah mich traurig an. „Du hast gesagt, dass du mich nicht dabei haben willst. Dass du mit Ally allein sein willst.“ Er verzog sein Gesicht, bevor erneut die Tränen liefen. „Und Mama will mich auch nicht bei sich haben. Keiner will mich.“
„Das stimmt so nicht, Edward. Ich hab dich wirklich lieb, aber ich hab auch Ally lieb. Manchmal möchte man dann etwas mit demjenigen machen, allein. Aber nicht für immer. Wir spielen doch auch ganz oft zu zweit in deinem oder meinem Zimmer oder gehen zum Spielplatz. Dadurch zeigt man, dass man einander lieb hat. Und ich wollte nur einen Abend mit Ally allein sein, damit ich ihr zeigen kann, dass ich sie auch wirklich lieb hab. Das heißt aber nicht, dass ich dich nicht mehr lieb habe. Hast du das verstanden?“
Er kräuselte seine Nase und nickte, wirkte jedoch immer noch nicht vollständig überzeugt. Ich überlegte kurz. Mein Blick fiel auf die Kuscheltiere.
„Das ist so ähnlich wie mit Blacky und Pat.“ Edward sah mich verwundert an. „Nur weil du Pat manchmal ohne Blacky mit zum Spielplatz nimmst oder umgekehrt nur mit Blacky zum Spielplatz gehst, heißt das noch nicht, dass du einen von beiden weniger lieb hast, oder?“
Er schüttelte heftig seinen Kopf. „Nein, ich hab beide ganz doll lieb.“
Ich nickte leicht. Er schien zu verstehen, worauf ich hinaus wollte. Er warf einen kurzen Blick zu Ally. Aber sagte nichts.
Irgendwas ging ihm durch den Kopf. Ally warf ihm einen fragenden Blick zu. „Hast du noch eine Frage, Edward?“
Er nickte zögerlich. „Hast du Jay weniger lieb, weil ich immer dabei bin?“
Verwirrt runzelte sie ihre Stirn, bis sie zu begreifen schien. „Aber nein. Ich hab ihn trotzdem ganz doll lieb.“
„Aber…“ Er kräuselte wieder seine Nase.
Sie lächelte ihn an. „Ich weiß, dass er mich ganz doll lieb hat und er weiß, dass ich ihn ganz doll lieb hab. Man kann sich nämlich auch auf andere Weise zeigen, dass man einander lieb hat. Beispielsweise wenn man einander umarmt oder einen Kuss gibt oder indem man dem anderen hilft. Außerdem hab ich dich auch ganz doll lieb.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Fast schon mehr als deinen Bruder.“
Edward lächelte. „Ich hab dich auch ganz doll lieb, Ally.“
Die Situation war eindeutig entschärft.
„Hey, stopp mal. Wollt ihr mich jetzt etwa los werden?“ Ich tat so, als wäre ich zutiefst verletzt und schmollte.
Ally lachte und zog mir Edward aus den Armen, um ihn an sich zu drücken. „Erfasst. Du kannst jetzt gehen. Ich hab ja Edward zum lieb haben.“, lachte sie und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf.
Edward sah für einen Moment ehrlich entsetzt aus. Er glaubte mir doch tatsächlich. Er sah von mir zu Ally und wieder zu mir. Dann streckte er seine Arme aus, als Zeichen, dass er von mir auf den Arm genommen werden wollte. Ich hob ihn wieder hoch und er presste sich sofort wieder an mich. „Du darfst nicht gehen. Ich hab dich lieb. Du bleibst, ja?“
Okay, manchmal war er schon der niedlichste Bruder, den man sich wünschen konnte. Hoffentlich verlor er das nicht mit der Zeit.
„Du hast mich lieb? Bist du dir da sicher? Ich kann auch gehen.“, fragte ich nochmal mit meinen eigentlich weniger überzeugenden Schauspielkünsten.
Er schüttelte heftig den Kopf. Schnell drückte er mir einen Kuss auf die Wange und klammerte sich wieder an meinem Hals fest. „Ich hab dich am liebtesten von allen. Du darfst nicht gehen. Ally hat dich sicher auch noch ganz doll lieb.“
Sie lächelte ihn an und nickte, als er sie ansah.
Ich drückte ihn leicht an mich und drückte ihm ebenfalls einen Kuss auf den Kopf. „Dann geh ich auch nicht. Ich hab dich auch am liebtesten von allen.“
Wir blieben eine Weile so sitzen, bis Edward laut gähnte. „Ist da etwa jemand müde?“, lachte Ally.
Er schüttelte wieder den Kopf, aber ihm fielen gleichzeitig fast die Augen zu.
„Komm. Ich bring dich ins Bett. Dir fallen ja schon die Augen zu.“
Er schluchzte wieder. Dieser Abend war für uns alle emotional gewesen. Kein Wunder, dass er müde und etwas weinerlich war.
„Ich will aber nicht schlafen gehen. Was ist, wenn der böse Mann kommt?“
Er sah mich dabei so verzweifelt an, dass ich beinahe nachgegeben hätte. Aber er musste ins Bett. Er war müde und konnte sich sowieso kaum noch wach halten. Eine Lösung musste her.
Ich warf Ally einen kurzen Blick zu. Sie verstand sofort.
Sie stand auf und streckte sich kurz. „Ich glaub, ich geh langsam auch nach Hause. Ihr seht beide ziemlich müde aus.“
Edward schaute sie kurz an, bevor er seine Arme nach ihr ausstreckte. Sie nahm ihn und drückte ihn an sich. „Ich komme morgen wieder und dann spielen wir was Schönes, alle fünf, ja?“ Er nickte heftig und strahlte. „Gut. Dann schlaf gut und träum noch was Schönes. Ich hab dich lieb.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Ich hab dich auch lieb. Wir können morgen Memory spielen oder… oder… Mensch ärger dich nicht… oder… malen… oder…“ Sie lachte kurz und drückte ihm noch einen Kuss auf. „Das wäre schön. Also bis morgen.“
Sie kamen zu mir. Ich nahm ihr Edward ab und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Bis morgen. Ich liebe dich.“
Sie strahlte beinahe genauso wie Edward noch vor einer Sekunde. „Ich liebe dich auch. Schlaft gut.“
Kaum dass Ally aus dem Haus war, gähnt Edward erneut.
„So jetzt geht’s ab ins Bett.“
Er schüttelte immer noch den Kopf.
„Oh doch.“
„Aber ich will nicht.“
„Edward, du bist müde. Du brauchst deinen Schlaf genauso wie ich.“
„Aber ich will nicht.“, wimmerte er dieses Mal.
Ich schloss kurz meine Augen. „Und wieso nicht?“
„Weil… weil dann der böse Mann kommt… und dann hab ich Angst…“
Ich verstand, worauf Edward hinaus wollte. Ich würde ihn auch lassen, aber er sollte fragen.
„Du brauchst aber keine Angst haben. Ich bin nur ein Zimmer entfernt. Du kannst jederzeit zu mir kommen.“
Eine kleine Hilfe. Ein kleiner Denkanstoß.
Edward sah mich an und stellte dann endlich die Frage. „Darf ich bitte bei dir schlafen?“
Ich lächelte ihn an und nickte. „Natürlich.“
Er atmete erleichtert aus und gähnte anschließend. „Ich bin vielleicht doch ein bisschen müde.“, murmelte er.
Darauf lachte ich und machte mich mit ihm und seinen Kuscheltieren auf in den ersten Stock. Er bestand darauf mit mir ins Bad zu gehen, aber ich warf ihn kurz raus, als ich auf Toilette musste.
Danach legten wir uns in mein Bett und schliefen irgendwann ein; ich an die Kante des Bettes getrieben, Edward ausgestreckt über den Rest, mit Pat und Blacky jeweils in einem Arm.